Interview mit der Wahrheit


Redaktion:

Hallo, ich fühle mich geehrt, dass Sie heute bei uns sind. Bitte stellen Sie sich unseren Zuhörern kurz vor und erzählen Sie, warum Sie um dieses Interview gebeten haben.

 

Wahrheit:

Guten Tag, ich bin die Wahrheit und ich habe den Wunsch, dass mich die Menschen besser kennenlernen.

 

Redaktion:

Ich freue mich sehr, dass Sie sich hierzu entschlossen haben.
Während wir hier zusammen sitzen, fällt mir auf, dass sie sich fortwährend verwandeln. Darf ich fragen, wie das kommt?

 

Wahrheit:

Ich bin froh darüber, dass Sie das Fragen. Tatsächlich bin ich nicht konstant, sondern meine Erscheinung ist vielmehr von den mich verursachenden Umständen abhängig.


Redaktion:

Ich verstehe. Ist das denn nicht sehr anstrengend für Sie?


Wahrheit:

Nein. Ich werde ja ganz automatisch von den gegebenen Realitäten verändert und muss also selbst gar nichts dafür tun. Und zudem existiere ich ja auch zugleich an den unterschiedlichsten Orten, sodass ich quasi auf viele Schultern verteilt bin, wenn ich das so sagen darf.


Redaktion:

So so, das ist sehr interessant... Darf ich fragen, wie es ist, Sie zu sein? Immerhin sind Sie in aller Munde und sehr begehrt. Sie sind ein echter Megastar, könnte man doch mit Fug und Recht sagen.


Wahrheit  unvermutet emotional:

Ach, wenn Sie wüssten! Ja, alle Welt fragt nach mir, das stimmt. Aber wenn ich dann da bin, so herrscht nicht etwa, wie Sie vielleicht glauben, eitel Sonnenschein unter den Anwesenden, sondern es entbrennt vielmehr eigentlich immer ein Streit um mich. Jeder beansprucht mich für sich und brüstet sich mit mir, als ob er mich selbst erfunden hätte - was übrigens allzu oft sogar auch der Fall ist, aber lassen wir das einmal außer Acht... Wenn ein Rockstar den Raum betritt, dann jubeln alle und niemand stellt ihn in Frage. Aber mich wollen die meisten Menschen noch nicht einmal glauben, wenn ich bei ihnen bin, geschweige denn, dass sie sich an mir erfreuen würden.
Wenn ich zugegen bin, weil nach mir gefragt wurde, dann können Sie darauf wetten, dass sogleich irgendwer behauptet, dass ich gar nicht wirklich da bin, sondern dass ich nur gelogen wurde.


Redaktion  verwundert:

Bitte entschuldigen Sie, aber das kann ich mir gar nicht vorstellen. Sie sind doch das höchste Gut, für die Menschen. Wie kann es denn dann sein, dass Sie derart schlecht behandelt werden?


Wahrheit  etwas geknickt:

Na ja, woran sollen mich die Leute denn erkennen. Sie haben doch auch sofort gesehen, dass sich meine Gestalt ständig verändert. Das ist extrem frustrierend, wissen Sie? Ich komme mit besten Absichten daher, die Menschen aufzuklären und stoße doch nur auf Ablehnung. Ich Frage mich wirklich immer mehr, wer ich eigentlich bin und ob ich überhaupt von irgend jemanden gebraucht werde.


Redaktion  leicht genervt:

Ja, aber Sie sagen doch, Sie sind die Wahrheit. Also sind Sie, so weit ich weiß, doch unumstößlich. Aber jetzt sitzen Sie hier, mit all Ihren Selbstzweifeln. Offen gestanden kommen Sie mir überhaupt nicht unumstößlich vor!


Wahrheit  enttäuscht:

Sehen Sie, Sie haben auch Zweifel an mir.


Redaktion  fordernd:

OK, ganz ehrlich?


Wahrheit  gefasst:

Ja bitte.


Redaktion  gereizt:

Es heißt doch, die Wahrheit ist großartig und wer die Wahrheit hinter sich weiß, dem kann nichts geschehen. Aber Sie? Ganz ehrlich, Sie kann man doch niemandem ernsthaft verkaufen wollen. Mit Ihnen im Rücken ist man doch verraten und verkauft. Sie glaubt einem doch sowieso niemand.


Wahrheit  verzweifelt:

Ja aber bin ich denn wirklich nicht genug? Ich bin doch die Wahrheit!


Redaktion  erbost:

Das behaupten Sie! Aber wo bitte, ist denn der Beweis dafür!?

Stille...

 

Wahrheit  murmelt resigniert:

War ja klar. So läuft das jedes Mal. Niemand will mich glauben. Und wenn sich doch endlich mal welche über eine "Wahrheit" einig sind, da kann man auch fast schon sicher sein, dass ich noch nicht einmal in der Nähe bin.
Ich hasse meinen Job!